Weihnachten vor 36 Jahren

Meine Familie hat schon für Frauenrechte gekämpft, als die Taliban noch Windeln getragen haben. Meine Tante hat sich während des Kriegs in den achtziger Jahren nichts sagen lassen. Eine Miliz steckte sie dafür ins Gefängnis. Und meine Familie floh nach Indien. Dort wartete ein Schmuggler auf uns, der uns nach Deutschland bringen sollte. Während der Flucht erzählte er mir, dass in Deutschland alles wundervoll wäre und ich unendlich viel Spielzeug bekommen würde. Nachdem wir Monate später in Frankfurt ankamen, landeten wir in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Es war der 20. Dezember 1989. Und im Camp hagelte es Geschenke. Puppen, Autos, Kuscheltiere, einfach alles. Jeden Tag durfte ich neue Spielsachen auspacken. Ich war im Paradies.

Bis zum 25. Dezember, als mein Quell des Glücks versiegte. Ohne Vorwarnung, ohne Erklärung. Khalas, ab jetzt keine Geschenke mehr. Ab jetzt Schule. Ihr könnt euch vorstellen, wie das ist, aus allen Wolken zu fallen, vom Paradies in den Matheunterricht. Geschenke, das sah ich gleich, würde es hier nicht geben. Die Klasse munkelte was von nächstem Jahr und so beschloss ich, geduldig zu sein und mir bis dahin die Zeit mit Fleißbienchen zu vertreiben.

Der nächste Winter nahte und meine Anspannung stieg. Jetzt müsste es bald wieder so weit sein. Dieses Weihnachten, von dem alle in der Schule sprachen, war angeblich schon ganz nah, nur nicht bei uns. Wir waren nicht mehr in der Erstaufnahmeeinrichtung, sondern inzwischen in einem Heim. Dort gab’s keine Geschenke, keinen Baum, meine Eltern kannten Weihnachten nicht. Die Kinder in meiner Klasse aber sehr wohl! Zwei Jahre gingen mein Bruder und ich leer aus, haben wir diese Schmach stoisch ertragen, aber als uns ein drittes trostloses Weihnachten drohte, legten mein Bruder und ich bei meiner Mutter Beschwerde ein. Wir hatten uns starke Argumente zurechtgelegt. 

„Mama, das ist so gemein, bitte, alle anderen Kinder dürfen auch, biiiiiiitte“.

Überzeugt. Mama führte Weihnachten in unsere Familie ein. Einfach so. Baum gekauft, geschmückt, Geschenke verpackt und die Weihnachtsgans mit Kartoffelsalat gab’s auch. So feiern wir seitdem Weihnachten, jedes Jahr. Typisch deutsch, halt.

Wie auch sonst, wir kennen es ja nur so. In Afghanistan gibt’s kein Weihnachtsfest. Meine Mama hatte damals keine Ahnung, als wir uns bei ihr beschwerten. Aber sie ist eine verdammt schlaue Frau. Sie hat nicht gesagt: „Sowas feiern wir nicht!“Oder: „Das ist nichts für uns!“ Sie hat einfach dem Weihnachtsmann die Schuld in die Schuhe geschoben. Der Weihnachtsmann müsse wohl durcheinander gekommen sein mit unserer Adresse, weil wir so oft umgezogen sind. „Gut, dass du mit dem Weihnachtsmann geschimpft hast“, hat sie gesagt. Ihr war zwar immer noch nicht ganz klar, was dieses Weihnachten soll, aber sie hat es für uns Kinder getan. Sie wollte nicht, dass wir in der Schule benachteiligt werden oder uns ausgeschlossen fühlen.

Weihnachten ist mir heilig, weil in der Zeit alle Menschen, die ich liebe, zusammenkommen. Meine Familie lebt auf der ganzen Welt verstreut, aber an Weihnachten kommt die ganze Mannschaft nach Hamburg und dann wird tagelang gefuttert und gequatscht und gekuschelt und gelacht. Wie nennt man das noch mal, was hier passiert?

Deutsche Behörden haben einen Begriff dafür, ich komme bestimmt gleich drauf. So ein Wort, bei dem sich konservativen Politikern die Nackenhaare aufstellen, weil dann ja noch mehr kommen könnten. Ich hab’s: Familienzusammenführung. Weihnachten ist die ultimative Familienzusammenführung. Und das schönste und wichtigste auf der Welt. Aus der Ferne weiß ich, was meine Familie bedeutet. An Weihnachten kann ich sie in die Arme schließen.

Elaha, 42 Jahre alt

In Deutschland seit Winter 1987, unterstützt Kabul Luftbrücke mit großem Herzen

#KLBgoesChristmas #DontForgetAfghanistan